“Und was ist jetzt genau das Problem?” – Der reale Kampf von Frauen im Musikgeschäft

“Und was ist jetzt genau das Problem?” – Der reale Kampf von Frauen im Musikgeschäft

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Music S Women* hat eine europaweite Debatte über Ungerechtigkeiten bei der Programmplanung von Musikfestivals angestoßen. Eine Reflexion.

von Susann Grossmann

Trotz steigender Temperaturen und niedrigen Corona-Fallzahlen, müssen die größten Musikfestivals des Landes (Rock am Ring/Park, Southside, Hurricane, Wacken und weitere) auch in diesem Jahr aussetzen. Die positive Sommerstimmung wird aber bereits genutzt, um die Werbetrommel für 2022 zu rühren. Dass die Planungen jetzt wieder Fahrt aufnehmen, kommt natürlich auch den Profi-Musiker:innen zugute – den einen mehr, den anderen weniger. 

Musikerinnen finden auf den großen Festivalbühnen auch 2022 kaum statt

Eine der ersten Line-Up-Ankündigungen kam von einem der größten Festivals Europas: Rock am Ring veröffentlichte Anfang Mai die ersten Acts für 2022. Wir von Music S Women* schauten uns das Line-Up genauer an – und zwar alle Bandmitglieder, die laut Recherchen ausfindig zu machen waren und pro Formation auf der Bühne stehen würden, egal ob Sänger:in oder Instrumentalist:in. Ergebnis: bisher würden 107 Musiker, aber nur 2 Musikerinnen auf der Rock am Ring-Bühne 2022 Platz finden. Diese Zahlen stellten wir nüchtern in einem Instagram Post dar, der innerhalb von 24 Stunden viral ging und viel Unterstützung erfuhr, auch prominenter Natur. Musikerinnen wie Alice Merton, LEA, Cäthe, Mine, Balbina, Lina Maly, Antje Schomaker, Phela, Nina FIVA Sonnenberg, Leslie Clio, Alexa Feser und Sophie Hunger weiteten die Debatte auch auf andere Kanäle aus. Der Druck von außen wurde sehr groß, sodass Rock am Ring sich gezwungen sah zu reagieren. Mit einem Statement, das sich üblichen Argumenten bedient, wenn es um das Verhandeln von feministischen Themen in der Musikbranche geht und die uns seitdem immer wieder begegnen: Es gäbe einfach weniger Musikerinnen im Business und damit sei das Line-Up nun mal Abbild der gesellschaftlichen Realität. Den Veranstalter:innen seien die Hände gebunden, da Teil einer größeren Industrie. Der Wandel bräuchte Zeit. Allein die Musik stünde im Vordergrund. Sie hätten das Thema auf dem Schirm. Dieses Statement ließ uns mit tausend neuen Fragen und Aufgaben zurück. 

Daten sind der Schlüssel

Mit unserer Community trugen wir innerhalb von 72 Stunden über 1224 Bands mit weiblicher Beteiligung aus dem Rock/Metal/Alternative zusammen und konnten belegen, dass die Auswahl mitnichten so klein ist, wie behauptet wird. Der Blog abgefreakt.de analysierte die Genreverteilung bei Rock am Ring genauer und stellte fest: von Pop bis Punk ist fast alles nahezu ausgewogen vertreten, was den Pool an erfolgreichen Musikerinnen, die auf dieser Bühne stattfinden könnten, noch einmal immens vergrößert.

War das Ungleichgewicht im Line Up 2022 nur eine Einzelfall? Nein. Wir zählten das Rock am Ring Programm der letzten 10 Jahre aus – im Schnitt sind nur 4% der Musiker:innen auf der Bühne weiblich. Diese Zahlen schaffen Tatsachen und belegen eine strukturelle Unsichtbarkeit von Profi-Musiker:innen auf Deutschlands größtem und bekanntestem Festival.

Uns war und ist klar: Daten sind der Schlüssel, der viele Türen aufschließen und eine öffentliche Debatte anstoßen kann, die nicht nach der ersten Welle abebbt. Sophie Hunger forderte später breitenwirksam in einem Gastbeitrag im Spiegel: “Redet nicht nur – bucht Frauen!”. Kürzlich zitierte auch Comedian Carolin Kebekus in ihrer Show vom 15.7.2021 unsere Statistik zu Rock am Ring und brachte das Thema “Sexismus in der Musikbranche” noch zwei Monate nach unserer ersten Veröffentlichung zur Primetime in das öffentlich-rechtliche Fernsehen. 

Wir riefen die Zählaktion “Make it count” ins Leben, um auch bei vielen anderen Festivals mit Hilfe von Interessierten genauer nachzuzählen. Mit dem Highfield Festival kehren wir als sächsisches Netzwerk auch vor der eigenen Haustür – das Resultat: von bisher 40 bekanntgegeben Acts und insgesamt 163 Musiker:innen auf der Bühne sind 5 weiblich. Das macht einen Anteil von 3,1 %

Von der Debatte zum echten Wandel

Aber wo nun ansetzen, um diese Aufmerksamkeit zu nutzen und tatsächlich Änderungen in der Festivalplanung anzuschieben? Verantwortliche sind schwer ausfindig zu machen, kaum im direkten Dialog zu erreichen, konkret wird es selten. So bleibt oftmals das öffentliche “Finger in die Wunde legen” mit einer Portion Wut das einzige Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Auch Sophie Hunger beobachtete: “Die Mittel der Diplomatie – öffentliche Panels, akademischer Diskurs – erweisen sich […] auch in der Musikbranche als fundamental ineffektiv.” 

Statt lösungsorientiert mit Betroffenen in Kontakt zu treten, haben Veranstalter:innen durch ihre distanzierten, öffentlichen Statements geschickt die Debatte von sich selbst auf die Konsument:innen verlagert, um nicht selbst die Karten auf den Tisch legen zu müssen. Vor allem Festivalgänger:innen melden sich dann zu Wort – überwiegend Männer – welche sich durch unsere Kritik persönlich in ihrem Musikgeschmack angegriffen fühlen. In intensiven Diskussionen sensibilisieren wir dafür, die Debatte nicht aus der individuellen Perspektive heraus zu führen, sondern das große Ganze in den Blick zu nehmen. So wie andere Berufszweige auch für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, können und sollten sich auch Berufsmusikerinnen für Veränderungen einsetzen. Nicht spielen bedeutet schließlich nichts verdienen. Check. Verstanden. Das konnten einige nachvollziehen. Doch statt der ebenso notwendigen Debatte mit Programmkoordinator:innen und Musikerkollegen, wurde es eben vor allem ein Ringen um Verständnis mit den Konsument:innen, die eigentlich mitnichten die Adressat:innen der Kritik waren. Um einen echten Wandel herbeizuführen, dürfen wir hier nicht stehenbleiben. 

Wir brauchen mehr Transparenz in den Entscheidungsprozessen der Musikindustrie und der Vergabe von Fördermitteln. Wir brauchen eine lösungsorientierte Aussprache mit denjenigen, die diese Entscheidungen treffen. Wir brauchen ehrliche Antworten auf die Fragen: Warum entscheidet ihr so und wie können wir euch helfen es anders zu machen?. Wir brauchen verbindliche Zugeständnisse, zum Beispiel indem Organisator:innen die Keychange Pledge unterzeichnen und damit auf ein paritätisches Booking hinarbeiten. Wir brauchen mehr männliche Kollegen aus allen Bereichen der Musikwirtschaft, die sich für Gleichberechtigung einsetzen – Stichwort #heforshe – damit es nicht mehr “nur ein Frauenthema” ist. Wir brauchen Ernsthaftigkeit. Wir brauchen einen Perspektivwechsel. Wir brauchen Gehör für die vielen Erfahrungen anderer. Und dann brauchen wir auch keine Wut mehr.

Links:
www.musicswomen.de
www.musicwomengermany.de